Der Osten ist bunt – zur Vielfalt von Engagement und Ehrenamt in Ostdeutschland (2024)

Wer an Vielfalt denkt, dem kommen eher Metropolen wie Berlin als Mittelstädte im Süden Thüringens in den Sinn. Dabei kann Beulwitz, ein Stadtteil im Nordwesten von Saalfeld, durchaus mit ‚Multikulti-Bezirken‘ wie Neukölln mithalten. Mehr noch: Drei von vier Menschen in Beulwitz haben familiäre Wurzeln im Ausland, in Neukölln ist es nur jeder Zweite. Klar, in Saalfeld-Beulwitz wohnen insgesamt keine 1.000 Menschen, in Neukölln dagegen etwa 300.000, aber das ist eine andere Frage.

Seit dem „Langen Sommer der Migration“ 2015/16 ist die Zahl der Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft auch in den „Neuen Bundesländern“ – gemeint sind Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern – stark gestiegen. Und auch sonst ist der Osten bunter, als manche glauben. So wird etwa auch in Neustrelitz, einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, wo die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE) ihren Sitz hat, jährlich eine Demo zum Christopher Street Day organisiert.

Zur Person

Katarina Peranić

Katarina Peranić ist Vorständin der 2020 gegründeten Deutschen Stiftung für Engagement und Ehrenamt (DSEE). Die gebürtige Stuttgarterin mit kroatischen Wurzeln arbeitet seit Jahren an der Schnittstelle zwischen Zivilgesellschaft, Politik und Wirtschaft – ein besonderer Fokus dabei: gesellschaftlicher Zusammenhalt in ländlichen und strukturschwachen Regionen.

Wer sich einen Eindruck des vielfältigen Engagements im Osten Deutschlands verschaffen will, dem sei ein Blick auf die Preisträger:innen des Ideenwettbewerbs machen! empfohlen, den der Ostbeauftragte, Carsten Schneider (SPD), seit 2023 gemeinsam mit der DSEE organisiert. Eindrücklich zeigt sich hier die Findigkeit und Kreativität der Zivilgesellschaft im Osten, aber auch die Herausforderungen, denen Engagierte mit ihren Projekten begegnen: So etwa der Verein „Break the Fake“ aus Naunhof (Sachsen), der sich mit Fact-Checking-Workshops gegen Desinformation im Netz stark macht. Oder der „VfL Kalbe / Milde“ (Sachsen-Anhalt), der mit Basketball die Toleranz in Brennpunktbezirken fördert. Oder eben die Jugendredaktion Saalfeld-Beulwitz, die geflüchteten Menschen eine Stimme gibt.

Herausforderungen in Engagement und Ehrenamt in Ostdeutschland

Die Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September 2024 gaben in Ost und West vielen Menschen zu denken. Einer Studie der Hochschule Niederrhein zufolge sind Engagierte, die sich in Ostdeutschland für die Stärkung der Demokratie und gegen Rechtsextremismus einsetzen, häufiger als in Westdeutschland von körperlichen Angriffen und Sachbeschädigungen betroffen. „Mehr als 14% von ihnen denken oft darüber nach, ihre Tätigkeit zu wechseln, 7% überlegen, ihre Demokratiearbeit zu beenden” fassen Tina Leber, Fabian Mertens und Beate Küpper die Befragungsergebnisse zusammen.

Der Hass und die Hetze, den vor allem rechtsextremistische Gruppierungen in den Sozialen Medien verbreiten, finden in den Neuen Bundesländern also deutlich häufiger ihren Weg ‚auf die Straße‘, was viele Engagierte verunsichert. Unter diesen Vorzeichen ist die Gewinnung neuer Mitstreiter:innen freilich eine besondere Herausforderung, zumal das Engagement in Ostdeutschland traditionell weniger gesellschaftspolitisch ausgerichtet ist. David Kuhn, Peter Schubert und Birthe Tahmaz von Zivilgesellschaft in Zahlen (ZiviZ) zeigen das anhand des im Osten wesentlich stärker ausgeprägten Engagementbereichs „Freizeit und Geselligkeit”.

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Hinzu kommt die ostdeutsche Realität vergleichsweise drastischer Transformationserfahrungen, die sich seit der Wendezeit 1989/90 bis heute fortsetzt. Der eingangs erwähnte Zuzug von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft in den Neuen Bundesländern seit 2015/16 wird von Westdeutschen oft mit dem Hinweis relativiert, dass man im Osten gerade bei einer Quote von etwa 10 Prozent steht – weit hinter den West-Bundesländern. Dass diese 10 Prozent aber eine Verdreifachung seit 2014 bedeuten, wird dabei oft übersehen.

„Die Gestaltung und Moderation dieser Veränderungsprozesse, die vor allem in Vereinen und Initiativen, im Sport, in der Kultur oder der Heimatpflege stattfindet, braucht Zeit. Zeit, die der ostdeutschen Zivilgesellschaft in Anbetracht der sich aktuell aufstapelnden Krisen zwischen den Finger zu zerrinnen scheint.“

Zitat vonKatarina Peranić

Neben dem Thema gesellschaftlicher Diversität sind ja auch noch andere Transformationsprozesse zu managen – zum Beispiel die Digitalisierung und der Klimawandel. Dass sich hier mithin eine gewisse „Veränderungsmüdigkeit“ entwickelt, die zum Beispiel Steffen Mau in seinem Buch „Ungleich vereint“ thematisiert, ist wenig verwunderlich.

Kräfte mobilisieren für Vielfalt und Toleranz in Ostdeutschland

Bei allen Problemen und Herausforderungen: Die Kraft, Kreativität und Findigkeit der ostdeutschen Zivilgesellschaft ist beeindruckend. Nicht nur der Blick auf die jährlich 200 Preisträgerinnen und Preisträger des Ideenwettbewerbs machen! zeigt das. Vor Augen führen sollte man sich auch, dass drei von vier Vereinen in den Neuen Bundesländern erst nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung ab 1990 gegründet wurden. Heute kommen auf 1.000 Ostdeutsche im Schnitt 7,9 Vereine – in den Alten Bundesländern sind es im Schnitt nur 7,3. Zusammen genommen sind im Osten zirka 100.000 gemeinnützige Organisationen aktiv, wobei sich am Beispiel der Stiftungslandschaft zeigt, dass das Engagement in den Neuen Bundesländern eben anders ist als im Westen: Kapitalstarke Stiftungen sind traditionell im Osten eher die Ausnahme, dafür mobilisieren Bürgerstiftungen hier weit mehr bürgerschaftliches Engagement als in Westdeutschland.

Dass das Engagement in den Neuen Bundesländern auch nicht allein auf lokaler Ebene bleibt, sondern gebündelt in die politische Öffentlichkeit getragen wird, zeigt das Beispiel DaMOst. Der Dachverband der Migrantenorganisationen in Ostdeutschland macht mit dem Projekt “JUGENDSTIL” beispielsweise deutlich, wie viel Innovationskraft in (post-)migrantischem Engagement junger Menschen steckt. In eine ähnliche Richtung geht auch das Engagement von “Freistil – Jugend engagiert in Sachsen-Anhalt”: Hier finden junge Engagierte mit und ohne Migrationshintergrund Ansprechpartner:innen für ihre Vorhaben, Kontakte zu anderen Engagierten und Fördermöglichkeiten.

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Das Dossier zum Thema

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Diversität ist das Buzzword unserer Zeit. Unternehmen, Behörden oder Vereine machen es sich zum Aushängeschild. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Wie schaffen wir echte Vielfalt? Und wo ist Diskriminierung nach wie vor vorhanden oder verstärkt sich gar – diesen Fragen wollen wir in diesem Dossier auf den Grund gehen.

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Die Leistungen der Engagierten in Ostdeutschland aus den vergangenen Jahrzehnten lassen sich aus erwähnten Gründen nicht in gerader Linie in die Zukunft fortzeichnen. Die weitere Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Kräfte in Ostdeutschland ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Es braucht ehrliches Interesse an der (Zivil-)Gesellschaft der Neuen Bundesländer, das sich nicht allein auf Krisen und Katastrophen beschränkt. Es braucht Wertschätzung für die Leistungen der Ostdeutschen, ihrer Geschichte und ihren Traditionen. Und es braucht das, was Engagement und Ehrenamt überall ausmacht: Wertschätzung, Anerkennung und handfeste Unterstützung für jene, die für unsere Demokratie und für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt einstehen.

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